Dieser Beitrag wurde 1.791 mal aufgerufen

Annäherung an Karfreitag

Den Stein hatte ich schon in meiner Hand,
und – wenn ich ehrlich bin:
in der anderen hatte ich auch einen.
Zu meinen Füßen lag ein ganzer Steinhaufen.
Ich hatte ihn sogfältig zusammengetragen –
nicht jeder Stein liegt gut in der Hand.

Was schaut ihr mich denn so angewidert an?
Das war alles in Ordnung und rechtens – wirklich!
Wir hatten einen großen Kreis gebildet,
die Reihen fest geschlossen.
Da gab es kein Durchkommen – niemals.
Den einen oder die andere von euch
habe ich dort auch gesehen.
Oder ward ihr das nicht?
Ehrlich?

Wäre doch aber auch gut möglich gewesen – oder?
Schaut doch mal in euren Taschen nach!
Seht ihr – ich wusste es doch.
Ihr traut euch nur nicht so richtig.
Auch so ein Kieselstein kann ins Auge gehn.

Ich jedenfalls brauche so etwas,
zumindest hin und wieder,
Es tut richtig gut, einen Sündenbock zu haben.
Es ist geradezu befreiend.
Aber das wisst ihr ja selbst.
Außerdem – wer schuldig geworden ist, muss büßen.
Sonst würde ja alles den Bach runter gehen,
es gäbe nichts mehr,
woran man sich halten könnte.

Den Stein hatte ich schon in meiner Hand,
hatte gerade ausgeholt
und wartete mit den anderen auf ein Zeichen.
In solch einer Masse muss es immer einen geben,
der das Kommando gibt,
der sagt, dass das richtig ist, was wir tun.
Sonst funktioniert das nicht.

Da hörte ich seine Stimme:
„Wer unter euch ohne Sünde ist,
der werfe den ersten Stein.“
Diese Worte trafen mich, wie ein Schlag.
Ich war wie gelähmt.
Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.
Niemand hatte damit gerechnet.

Da wagte es einer, aus der Masse herauszutreten,
und sprach mit solch einer Vollmacht,
dass er mit einem Satz dem Ganzen ein Ende setzte.
Betroffen und beschämt schlichen wir uns alle davon.
Seitdem sammle ich keine Steine mehr zusammen.
Ich habe noch nicht einmal einen Kieselstein
in meiner Tasche.

Aber – es ist nicht einfach
so ohne einen Sündenbock zu leben.
Da sammelt sich mit der Zeit so einiges an
und ich weiß manchmal nicht,
wohin mit der Last.
Meine Schuld ist zu schwer geworden
und niemand ist da,
bei dem ich sie abladen
oder dem ich sie aufladen kann.

Später habe ich gehört,
dass sie ihn ans Kreuz geschlagen haben.
Lamm Gottes nennen sie ihn.
Sündenbock.

Christoph Ecker